Samstag, 14. November 2015

Angst vor der Angst - #paris





Gestern, als die Nachrichten über die schrecklichen, schrecklichen Vorfälle in Paris in die Nachrichten kamen, saß ich gerade im Auto auf dem Rückweg vom Flughafen.

Es ist entsetzlich, was geschehen ist. Mein aufrichtiges Mitgefühl für alle Opfer. Trost und Beistand, für alle, die gerade nicht wissen wie es weitergehen soll.

Auch ich saß dann zu Hause angekommen mit brennenden Augen, sprach- und fassungslos vor Fernseher und Internet und sammelte die wirren Informationen ein, die von überall auf deutsch, englisch und französisch auf mich und meinen Mann einprasselten. Die Panik, als wir erfuhren, dass eines der betroffenen Lokale das eines Freundes ist. Die Erleichterung, als wir hörten, er sei nicht direkt betroffen gewesen, sondern nur von den Flüchtenden überrannt und dann als Notlazarett eingesetzt worden. Das grässliche Gefühl, seine Worte zu hören: 

"Der Boden schwomm in Blut." 


Ich will diese Verbrechen nicht entschuldigen, denn ich verabscheue allgemein Menschen, die zu Gewalt greifen um ihren Standpunkt zu vertreten, der offenbar argumentativ nicht stark genug ist. Erst recht, wenn sich die Gewalt nicht etwa gegen die Opponenten wendet, sondern gegen unbeteiligte Dritte, die damit als Mittel einer perfiden Erpressung missbraucht werden.

Doch so ist es hier gar nicht. Was kann ein Terrorist mit dem Schießen auf Menschen im Café oder in einem Konzert, mit einem Selbstmord auf einem belebten Platz erreichen? Es geht nicht um die Verbreitung irgendwelcher Ideologien, um das Durchsetzen einer ihrer Meinung nach "richtigen" Lebensweise. Es geht um Terror und um Allmacht. 

Terrorismus ist der billigste Weg zur Macht. 

Ich habe es schon anlässlich der Ereignisse um Charlie Hebdo Anfang des Jahres gesagt - es schaut nicht gut für unser System aus, wenn 5 entschlossene Idioten unser System lahmlegen können. Sie zwingen uns dazu, Angst zu haben. Und natürlich haben wir Angst. Das lässt sich gar nicht verhindern. Wir wollen leben. Wir wollen nicht erschossen werden. Wir wollen "Sicherheit". Jeder Mensch will das. Seit dem Neandertal. Das ist tief im Konstruktionsplan verwurzelt. Aber zu welchem Preis wollen wir sie? Ist es nicht manchmal besser, sich der Angst zu stellen, als mit ihr zu leben?

Wir müssen uns nun fragen, wie wir mit dieser Angst umgehen wollen. 


Dazu sollten wir nach innen horchen. Als ich gestern heim gefahren bin, war mein erster Gedanke - kleinlich und banal - nicht etwa, dass es grässlich ist, was passiert war. Ich war froh, dass ich noch unbehelligt nach Hause geflogen war. Denn machen wir uns nichts vor. Die auch in friedlichen Zeiten seit 09/11 nicht gerade lustigen so genannten Sicherheitskontrollen am Flughafen werden jetzt dramatisch verschärft werden.

Ich habe Angst vor der Angst. 


Angst davor, was die Angst vor diesem Terror aus uns macht. Gewalt erzeugt Gegengewalt und am meisten Angst habe ich vor der rechtschaffenen Gewalt. Vor der Gewalt, die reaktiv ihre Legitmation aus dem Irrsinn dieser Terridioten zieht und damit jedes Gespür für Maß und Mitte über Bord wirft. Dieses aufgeplusterte, so schnell dahingebrüllte "Das kann man sich nicht bieten lassen."

Die Menschen heute morgen beim Bäcker geben plötzlich der CSU recht, die sich stolz für das "schärfste Asylrecht" aller Zeiten auf die Brust trommelt, in der doch ein von christlichen Werten geprägtes Herz schlagen soll. Auch am 11.11., dem St. Martinstag, wo man der Geschichte eines Mannes gedenkt, der trotz eigenen Bedarfs seinen Mantel mit einem Bettler teilt.Die Menschen wenden sich plötzlich der AfD wieder zu und grenzen willig die ohnehin längst als lästig empfundenen Flüchtlinge als potentielle "Schläfer" aus. Herrje. Als hätte der IS es nötig, in so armseligen Unterkünften zu "schlafen".


George Takei schreibt auf Facebook: "There no doubt will be those who look upon immigrants and refugees as the enemy as a result of these attacks, because they look like those who perpetrated these attacks, just as peaceful Japanese Americans were viewed as the enemy after Pearl Harbor. But we must resist the urge to categorize and dehumanize, for it is that very impulse that fueled the insanity and violence perpetrated this evening."

Bis hierher bin ich empört, aufgewühlt, geschockt ... ich weiß es nicht. Angst bekomme ich erst, wenn ich höre, wie auf die gut geplant auf einen Freitag, den 13. gelegten Attentate reagiert wird. Es ist verständlich, dass man sich gegen Angriffe wehren will. Das man etwas tun will. Irgendwas. Weil es das Gefühl der Hilflosigkeit betäubt. Menschen sind so. Trotzdem ist es falsch.

Da wird angedroht, mit "aller Härte" gegen die Terroristen vorzugehen. Da werden unsere Werte "verteidigt". Da wird dem Terror "der Kampf angesagt". Und damit wiederholen wir den Fehler von 09/11. Bin Laden hatte in einer Videobotschaft verkündet, er werde unsere westliche Kultur und Werte zerstören. Und wir haben ihm eine lange Nase gedreht und gesagt, das machen wir schon selber. Es tut mir leid. Wir scheren ein in einen bedenklichen Teufelskreis.

Wenn wir "kämpfen", haben wir verloren. 

Wir können nur stur weiterleben. Trotzig the Show must go on. Auch das Fußballspiel wurde nicht abgebrochen.

Aber dann kippte es. Über ganz Frankreich wurde der Ausnahmezustand verhängt. Militär hat übernommen. Bürgerrechte und rechtsstaatliche Grundprinzipien sind außer Kraft gesetzt. Die Grenzen geschlossen. Wie George richtig befürchtet, beginnen die Menschen, verdächtiges Aussehen an ethnischen Merkmalen festzumachen. Wer arabisch aussieht, ist potentiell gefährlich. Flüchtlinge sind plötzlich ein potentielles Sicherheitsrisiko. Hilfsbereitschaft ist in dem Maße schwerer zu erlangen, in dem sie von uns Opfer fordert. Das war schon vor Paris zu bemerken. Wenn wir uns jetzt gegen die Flüchtlinge wenden, in deren Leben, der Abend von Paris längst Alltag geworden ist, und ihnen unsere Solidarität entziehen, haben die Terroristen, deren Treiben wir durch unsere Hilfsbereitschaft, durch die gelebte Völkergemeinschaft den Boden entziehen, gewonnen.

Wer die Reaktionen auf Paris sieht und hört, kann ermessen, wie groß die Leistung Norwegens war, sich 2011 bewusst nach den nicht minder grässlichen Vorfällen in Oslo nicht für eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen zu entscheiden, sondern das Leben weiter zu leben. Weil es nichts bringt.

Man mag mich dann erschießen, auf einem Konzert, in einem Café. Aber ich werde lebend erschossen werden. Mit einem Lachen auf dem Gesicht. In Freiheit. Weil ich inmitten von Menschen leben will, die leben wollen, die für Freiheit stehen und sich an ihr erfreuen.

Ich will keinen Terror von meinen eigenen Leuten, nur weil das dann "meiner" ist.  

Eine Autorenkollegin hat sich entschuldigt, weil sie gestern in Unkenntnis der Ereignisse freudig ihr neues Buch angepriesen hat. Eine Freundin regt sich auf, weil eine andere ihre Verlobung gepostet hat. Warum? Wollen wir uns das Lachen verbieten lassen? Ich möchte nicht pietätlos wirken. Ich traure aufrichtig mit den Opfern und ihren Familien und habe vor diesem Blogbeitrag eine Stunde mit Paris telefoniert, mit direkt Betroffenen. Getröstet, schief gescherzt. Zittrig aufgerichtet. Aber das Leben geht weiter. Das ist ein Fluch und ein Segen zugleich.

Es gibt keine Sicherheit. Es gibt nur Terror. Und Gegenterror. Meine Mandantin gestern, mit der ich noch in seliger Unkenntnis kommender Ereignisse am Flughafen wartend über Flüchtlinge sprach, meinte, ihre Großmutter, die nach dem Krieg als Kind geflohen war und dann in der DDR gelebt habe, hätte bitterlich geweint, als sie im Fernsehen sah, wie Stacheldrahtzäune an den Grenzen errichtet wurden. Sie weiß, was das bedeutet. Sie ist auch schon auf der anderen Seite solcher Zäune gestanden. Ist der Terror in Paris denn schlimmer als in Aleppo, nur weil er uns direkter betrifft?

 Die Nacht von Paris ist der Alltag von Aleppo.


Und wenn ich höre, dass ich künftig damit rechnen muss, dass wir in Bezug auf Terrorverdacht den Unschuldsbeweis führen müssen - und sei es durch absolute Transparenz und Überwachung - dann muss ich sagen, dass wir verloren haben. Dann hat der Terrorismus gewonnen. Nicht in der Wahl der Mittel, aber im Ergebnis.

In unserer Sorge um unsere Weltmeister saßen wir gestern vor dem Fernseher und sahen die Interviews aus den Katakomben des Stadions mit Sportlern, die alle - völlig verständlich - unter Schock standen. Es zeigt, wie schnell es gehen kann. Es zeigt, dass es keine Sicherheit gibt. Für niemanden. Nie. Höchstens in der Gemeinschaft. Jeder der Fußballfans, die aus dem Stadion geworfen waren und nun hilflos auf der Straße standen, weil sie im Chaos nicht ihr Hotel erreichen konnten und in der über der Stadt verhängten Ausgangssperre nicht wussten, wohin, war ein Flüchtling. Von Null auf Jetzt. Mit nur einer Explosion. So schnell kann das gehen.

Und jeder dieser frisch gekürten Flüchtlinge war bestimmt heilfroh, dass die Pariser so großartig reagierten und nicht lange fackelten und unter #porteouverte wildfremde Menschen - Hooligans womöglich - in ihre Privatwohnungen aufnahmen.
Das ist großartig. Darüber kann ich weinen. Weil es die Lösung zeigt.

Wer sieht, wie froh diese Menschen waren, dass sie Hilfe bekommen haben, als sie dringend Hilfe benötigten, kann doch nicht allen Ernstes weiter über Flüchtlinge wettern.

Wir müssen unsere Werte nicht "verteidigen". Wir müssen sie leben.

Singvogel postet auf Facebook:
"Wir werden dem Hass Liebe entgegen setzen. Möge jeder Akt des Hasses die Liebe nur noch stärker machen. Jeder Akt der Gewalt uns näher zusammen rücken lassen und Seite an Seite stehen lassen. Und jede Unmenschlichkeit mehr Menschen die Notwendigkeit erkennen lassen, jetzt erst recht Menschlichkeit zu zeigen und zu leben."
Yep. 

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